Auf was es ankommt
Heute begegnete mir in dem (bemerkenswerten) Buch Manchmal rot von Eva Baronsky der Satz - der wiederum aus dem Film Einer flog über das Kuckucksnest und dort von dem Protagonisten McMurphy stammt: ›Es kommt im Leben nur darauf an, herauszufinden, was man ist - und es dann zu sein.‹
Warum ich ihn so tiefgründig finde, erfährst du, wenn du auf ›weiterlesen‹ klickst.
Wir leben in einer sehr zweischneidigen Zeit, aber vielleicht taten wir das ja schon immer. Ich lebe aber jetzt und deshalb behaupte ich einfach, dass die aktuelle Zeit besonders zweischneidig ist. Auf der einen Seite gelten Konventionen heute wenig. Oder sagen wir, die klassischen. Außer für ausgesprochene Romantiker ist es niemandem mehr wichtig, beim Auto oder im Restaurant der Begleiterin die Tür aufzuhalten, jemandem den Vortritt zu lassen oder sich zu bücken, wenn jemandem etwas hinunterfällt. Wie gesagt, Romantiker oder solche, die ihre Begleitung einkochen wollen, sind die Ausnahmen. Schon gar nicht mehr wird der Sohn Schuster, wenn der Vater einer war - abgesehen davon, dass es keine Schuster mehr gibt - oder Sechzehnjährige fügen sich in eine Anordnung von Paps oder Mama. Wiederum abgesehen davon, dass die Dad und Mum heißen.
Mit einem Wort: man pfeift auf das, was früher einmal Werte waren, Werte, die eine Gesellschaft geformt hatten. Man pfeift nicht, sondern man scheißt drauf und wenn ein Elternteil einer oder eines Pubertierenden vielleicht aufmucken will, man solle Scheiße nicht sagen, wird ihm bestenfalls mit Augenrollen der Rücken zugeweandt, im schlechteren Fall heißt die Antwort ›Halt's Maul.‹ Kurz und gut: Man kann und darf heute so gut wie alles. Hingegen sollte man nicht fünf Jahre alte Klamotten tragen und bei der Sprache darauf achten, sich nicht zu gewählt auszudrücken, denn out ist man trotzdem schnell. Im Geschäftsleben kommt es gut, wenn man etwa bei Mails in jeden Satz mindestens einen Komma- oder Rechtschreibfehler in den Text schmuggelt. Dann ist man am Puls der Zeit. Aber sogar korrekt schreiben, altmodische Wörter verwenden und sich unmodisch kleiden kann man, wenn man nur mit entsprechend viel Rückgrat durchs Leben geht. Dann wird das mit einem Mal cool. Also generell: alles ist möglich. Ich weiß, ich bin ein wenig abgeschweift, aber ich konnte nicht anders.
In Kurz: Man kann heute tun, was man will. Und insofern unterscheidet sich die heutige Zeit erheblich von der vor nur fünfzig Jahren; von davor ganz zu schweigen.
Um auf den Satz des Anstoßes zurückzukommen: Erst heute sind die Gegebenheiten so, dass man ihn umsetzen kann. Früher konnte man nicht einmal heiraten, wen man wollte, und herausfinden, wer man war ... na, Schuster oder Bauer oder Kämmerer oder Hofrat. Warum?
Dafür haben wir heute ein ganz anderes Problem. Nicht alle haben den Film Einer flog über das Kuckucksnest gesehen und von denjenigen fiel wahrscheinlich der besagte Satz nicht auf. Heute haben, oder besser hätten, wir alle Möglichkeiten, nur nimmt sie keiner wahr. Im Gegenteil kommt es mir oft so vor, als würden sich viele nach dem Korsett zurücksehnen, das einem sagte, wo es lang geht. Wir nehmen die Chancen nicht als das wahr, was sie sind: die Möglichkeit, herauszufinden, was man ist und es dann auch zu sein. Wir könnten zwar alles, aber wir scheitern an der Vielzahl der Optionen. Sie erschlagen und paralysiern uns, anstatt und Möglichkeit zu sein. Vor lauter Fülle sind wir 95, bis wir einen kleinen Bruchteil ausprobiert haben. Man bräuchte eine konkrete Vorstellung, wie man suchen kann. Rein logisch geht es nicht, wie Berufseignungstests zeigen. Berater sheitern schon bei der Frage: »Was magst du gerne, was möchtest du denn machen?« - »Weiß nicht ...«
Einmal mehr sind wir mit unserem Verstand am Ende der Fahnenstange angelangt. Wie fühlt es sich an, wenn man weiß, was man ist? Wie weiß man, wenn man es herausgefunden hat? Nur die, denen es gelungen ist, können darauf eine Antwort geben: Es fühlt sich rund an, was sie machen, sie habe Freude an der Arbeit und an ihrem Leben, freuen sich auf die Zukunft. Aber wie sie dorthin gekommen sind, können sie meistens auch nicht beschreiben. Es ergab sich halt so.
Das Ergebnis, wenn man herausgefunden hat, was man ist, ist nicht nur angenehm und rund, sondern es ist meines Erachtens die Grundvoraussetzung dafür, dass man seinem persönlichen Lebensplan folgen kann. Nur wenn man sich kennt, wenn man weiß, wie es sich anfühlt, im Fluss zu sein, nur dann kann man damit spielen. Vorher gleicht das Leben einem Irren durch einen endlosen Wald und das auch noch in völliger Dunkelheit.
Auch hier kommt man zum selben Ergebnis: Es gibt einen einzigen kurzen Weg und unzählige lange. Mir fällt dazu das Bild von Tausenden Spermien auf ihrer Jagd zum Ei ein. Es kann nur einen geben, der gewinnt. Es ist nicht der Weg des Denkens, Grübelns und Beratungeinholens, sondern der zarte, dem man so gerne misstraut und den einem jeder Denkende auszureden sucht. Es ist der des Fühlens, des Spürens, des Im-Einklang-Seins. Noch oft werden wir immer auf dieselbe Erkenntnis zurückgeworfen werden: wahrnehmen lernen ist auf die Dauer der einzige Weg, der einen durch das unübersichtliche Wirrwarr führen kann. Nur ist Wahrnehmen nicht ganz einfach für uns denkende Westler, denn es ist eine große Portion an Vertrauen notwendig, an Mut, letztlich auch dazu, Strecken alleine zu gehen.
Herausfinden wer man ist ist die Pflicht, bevor man die Kür genießen kann, ein Leben im Einklang zu leben; im Einklang mit sich selbst.
Erst dann geht es so richtig los ...
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